Individualität vs. Kollektivität
oder «Erkenne dich selbst» [Valentin Weigel, 1578]
"Hey Sie!", hören Sie von rücklings eine unbekannte Stimme rufen. Instinktiv machen sie kehrt, auf dem Absatz wie auf anderer Ebene, der geistigen. Da ruft mich jemand, ..wer könnte das sein..., ...was könnte der wollen... und ...was kommt da jetzt?; auch ihre Gedanken, ihr Denken macht eine
Kehrtwende und dann stehn Sie dem Grund dieser Wendung, einer unerwarteten - gar spontanen - Wendung, gegenüber. Was ist in diesem einen Moment passiert? Ihre Sinne, konkret ihr Gehör hat einen Aspekt ihrer Umwelt wahrgenommen, der in seiner sprachlichen Ausprägung verständlich zum Innehalten vom eigenen Tun und Schaffen auffordert um in eine Interaktion mit einer, dieses Innehalten verursachenden, Erscheinung ihres Nicht-Ichs - also allem was nicht zu ihnen in ihrer Körperlichkeit gehört aber offensichtlich in ihrer Umwelt doch auch für sie und andere präsent "ist" - zu treten. Doch, die sprachliche Ausprägung ist wohl nur kultureller Spezialeffekt, die Botschaft wäre klar auch mit einem "Hey" vermittelt, einem, zumindest bei den Sprachgruppen nordischer Herkunft sehr urtümlichen Ausruf, und wohl weltweit "verständlich". "Hey!!!" ...ein wahrliches paläolinguistisches Monument mit wenig Bedrohungspotential. Ein "Jäger" würde uns kein "Hey" zurufen, hätte er uns als Beute ins Auge gefasst.
Doch betrachten wir noch kurz unsere Körpersprache, unsere Kehrtwende auf dem Absatz. Wir wenden uns zu etwas hin, wir treten entgegen oder nehmen Haltung an um uns Entgegnen zu können. Es begegnet uns etwas in der Welt, etwas drückt gegen unser Ich, es gehört nicht zu uns aber es tritt mit uns in Kontakt und ist unweigerlich da.
«Das ist gerade der Grund, warum mir die Dinge so rätselhaft gegenüberstehen: daß ich an ihrem Zustandekommen so unbeteiligt bin. Ich finde sie einfach vor; »
. schreibt Rudolf Steiner, und weiter . «beim Denken aber weiß ich, wie es gemacht wird. Daher gibt es keinen ursprünglicheren Ausgangspunkt für das Betrachten alles Weltgeschehens als das Denken.».
Genau das tun wir wohl in diesem Moment des Hinwendens, wir beginnen zu denken was jetzt passieren könnte. Und wir beschränken uns nicht auf die körperliche Geste, wir öffnen uns im wahrsten Sinne, im Denken nehmen wir die äußere Situation in uns herein und behandeln sie in unseren Gedanken, drehn, wenden und deuten sie und machen uns darauf fußend - sofern nicht ein neuerlicher Reiz diesem Prozess einen Reset versetzt - in unserer Umwelt, man könnte sagen "kollektiv", wirksam in unserem Handeln. Aber dieser kollektive Akt der Verständigung setzt früher an, schon im Denken, im Moment dieser Öffnung, des Hereinnehmens. In diesem Moment öffnen wir die Pforten zu unserer Burg:
«..im Denken hat das Ich seinen Begriff erfüllt, es hat sich als einzelnes selbst aufgegeben; deshalb befinden wir uns denkend in einer für alle gleichen Sphäre, denn das Prinzip der Besonderung, das da in dem Verhältnis unseres Ich zu dem ihm Anderen liegt, ist verschwunden in der Tätigkeit der Selbstaufhebung des einzelnen Ich, es ist da nur die allen gemeinsame Ichheit.» [Paul Asmus, «Die indogermanische Religion in den Hauptpunkten ihrer Entwickelung», S. 29, im 1. Bd., 1875]
Und darauf läuft sichs wohl hinaus, das "Hey" leitet den Eintritt in eine Sphäre der "gemeinsamen Ichheit" ein, in der Austausch und Verständnis immanent werden. Wir versinnlichen diesen Austausch in Laut und Form, in Vokalen und Körpersprache, in Sinn und Konzept. Nichts desto Trotz basiert und passiert diese Interaktion substantiell anderswo, es ist aus meiner Sicht zu bezweifeln, daß die Sprache kleinster gemeinsamer Nenner allen Verstehens ist, sie transponiert dieses nur in eine sinnliche Form. Wenn wir die Zeilen von Paul Asmus oben verstehen, dann berichtet er hier von der Auflösung des Ichs ins gemeinsame Ich, ein Bild, das wir wohl in allen religiösen Strömungen finden, in der christlichen Nächstenliebe wie der Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung im Buddhismus oder anderswo. Doch hier treffen wir auch eine willentliche "Ent-scheidung", nehmen eine Verschmelzung, eine Vereinigung unseres Ichs mit dem Nicht-Ich - dem Gegenüber, dem Du - vor, und treten ein in die Sphäre des allgemein-Ichs. In welch andere Form hätten wir dieses Konzept des "sich aufgebens" über die Jahrtausende retten können, denn in einem Glaubenssystem? Dem inne sitzt ja wohl eine gewisse Opferbereitschaft, etwas deutlich ungemütliches, Auflösung, Zersetzung, Leiden. Wir haben jedoch die Tendenz Leid vermeiden zu wollen.
«Nur eines lehre ich, jetzt wie früher: Das Leiden und das Ende des Leidens.» [Siddhartha Gautama: Anuradha Sutta (SN 44,2)]
. mir erscheint, wir assoziieren Leid zu negativ, jeder kennt die Momente wenn man sie überstanden hat, die leidvolle Erfahrung. Oft kommen diese Momente Jahre später und wir ernten dann die Früchte unseres Tuns und Lassens. Doch diese Früchte - die wohlbekömmlichen zumindest - erwachsen aus leidvollen, szsg. entbehrlichen Erfahrungen. Mir erscheint diese Sicht und Haltung, die nur kurz skizziert schon ein Konzept der Einheit - mit Gott oder Allem - anbietet, ganz konträr zu unserem heute gewohnten, modernen, gegenständlichen Denken. Einem sehr differenzierendem Denken das auf der Unterscheidung der Gegenstände - sich selbst als ebensolcher genommen - fußt. Sehr erfolgreich in der Fortführung und Optimierung einmal "gefasster" Konzepte, jedoch gänzlich unbrauchbar in der Entwicklung innovativer Funktionen. Die Anforderungen an unsere Werkzeuge und Behausungen haben sich über die Jahrtausende wenig bis kaum verändert, wir haben die bekannten tools bzw. Ideen einfach weiterentwickelt. Und einer von vielen Weiterentwicklern, oder ein dem Thema ganz und gar Fremder, stolpern über eine Funktion, einen Zweck dem das vorgefundene Konzept dienlich ist und bändigen der Menschheit aufs neue das Feuer. Die Feuer die wir seit dem Zeitalter der Industrialisierung entfacht haben sind allerdings allesamt ungebändigt, weil die Ideen dazu nicht aus dem gemeinsamen Ich gespeist wurden sondern aus jenem Ich, das eine Einheit mit Macht, Ruhm, Besitz ... unterhält. Und ich denke auch diese Themen haben sich über unsere Geschichte hinweg wenig verändert, wir leben in diesem Disput, daß sich alles was gut ist vom Leid nährt und alles was Leid verursacht höllisch Spaß macht und tierisch einfach ist. Der Löwe frißt sein eigenes Junges, das gute liegt so nah. Wir sind nicht anders und wir durchleben ähnliche Konflikte wie der Löwe. Denn wir sitzen alle ausnahmslos im selben Boot. In einem Boot aus dem wir nicht versuchen rauszufallen weil wir nicht wissen wie sich Wasser anfühlt. Dieses Wasser ist für uns wohl der Tod, das Sterben, die Ungewissheit.
Doch irgendwann hat ein findiger Weiterentwickler in fernen Tagen begonnen genauer darüber nachzudenken, und dies mit Garantie in einer äußerst demütigen Haltung gegenüber den ihn umgebenden, gigantischen Welten. Schon das zweifellos sehr frühe Konzept einer Behausung war zwangsläufig aus einer integrativen Herangehensweise heraus realisiert worden. Man mußte die Gegebenheiten um sich herum zu einer funktional erdachten Form kombinieren, egal ob Höhle oder Zelt. Man mußte sie Hereinnehmen in die pure "ich will" Überlegung um die Idee wetterfest zu machen. Hier muss diese Öffnung passieren die wir auch vollziehn, wenn wir beginnen über das "Hey" nachzudenken. Hier beginnt eine Begegnung im Inneren und im Abgleich an Erfahrungswerten und Wissen entsteht eine innere Erkenntnis des Sachverhalts die unser Tun anleitet. Aber darin liegt auch schon ein Metakonzept verankert, die Möglichkeit diese innere Erkenntnis zu instrumentalisieren. Dazu notwendig war die leidvolle Erfahrung von Kälte und Nässe, und diese Überlegung scheint schon vor 20.000 Jahren gar sehr naheliegend. An diesem Punkt treffen wir eine willentliche "Ent-scheidung", nehmen eine Verschmelzung, eine Vereinigung unseres Ichs mit dem Nicht-Ich - dem Gegenüber, dem Du - vor, und treten ein in die Sphäre des allgemein-Ichs. In welch anderer Form hätten wir dieses Konzept der Ich-Aufgabe über die Jahrtausende retten können, denn in einem Glaubenssystem? Den Mystizismus des gesprochenen oder gar geschriebenen Wortes, des in Form bringens flüchtiger Essenzen im Literal- wie anagogischen Sinne betreiben wir nicht erst seit gestern und ließen diesem vermutlich rituelle Abläufe vorangehn. Was durch die Zeiten herausgeformt wurde ist eine Art der Rezeption (im biologischen Sinne) unserer Umwelt und die Aufbereitung dieses Sinne-Reizes in eine, dem allgemein-Ich gültige Form, oder besser Idee. Aber diese Idee entsteht damit nicht aus uns, wir fungieren in unserer Individalform, in unser Körperlichkeit, in unserm Ich nur als Kanal, als Schleuse für, von einem immerwährenden Strom abgezweigte, Rinnsale, deren einziges Ziel das Wiedereintreten in ihre Allgemeinheitsform ist. Das Bild der Mühlbäche ist hier sehr stimmig, im Mühlbach haben wir verbildlicht und funktionalisiert was wir sind (das Bachbett) was unsere Ideen sind (das fließende Wasser) und wo das alles seinen Anfang und sein vorläufiges Ende findet (im Mutterstrom). Wenn man nun schlau folgert, daß an einem Strome wohl nicht nur eine Siedlung und damit nicht nur ein Mühlbach existieren, so liegt das Konzept des Wiedereintretens, der Wiedergeburt sehr nahe. Im größeren Maßstab vollzieht sich hier jener Prozeß der auch dem Moment des "Hey" in unserer Begegnung innewohnt.
«Und so lang du das nicht hast, dieses: Stirb' und Werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.» [Johann Wolfgang von Goethe, "Selige Sehnsucht"]