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Manifest für ein neues Jahrzehnt, Neujahrswort 2010

Würden wir die Welt- und Menschheitsentstehung nach aktuellen, bescheidenen Kenntnissen im Zeitraffer eines einzelnen Jahres betrachten, beginnt unser Forschungsansatz (oder der gebräuchlichste - jener der Urknalltheorie) am 01. Jänner um 00.14 Uhr. Am 19. September wären erste lebende Organismen zu verorten, am 29. September entwickeln einige von ihnen

die Photosynthese. Am 24. Dezember ist es dann soweit, die ersten Wälder entstehen, fast alle Tierarten entwickeln sich heute. Am Christtag treffen wir erste kleine Säugetiere an, am 29. Dezember gegen 20 Uhr entscheidet eine Gruppe von Affen sich ab nun auf die Hinterbeine zu stellen. Etwa 70 Sekunden vor Mitternacht des Sylvesterabends setzt der erstarkte Homo sapiens einen Schlußstrich unter dem Dasein des Neandertalers, in den letzten 15 Sekunden vor Jahreswechsel entwickeln sich die Erdregionen, 4,5 Sekunden vor Mitternacht verzeichnen wir Christi Geburt und ein 111 jähriger japanischer Gebirgsbauer hätte in diesem Maßstab gut 0,23 Sekunden an Wirkenszeit.

Nun, was sagt uns das über uns? Welche Bedeutung messen wir der Lebenszeit von 20 japanischen Gebirgsbauern zu? Was geht sich aus - hoch verdichtet und komprimiert, durch den neuesten Stand der Wissenschaften feinst filtriert - an Erkenntnis, in diesem doch recht überschaubaren Zeitraum? Wo sehn wir uns stehn?

"Handle nur nach derjenigen Maxime, 
durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."
[GMS, Immanuel Kant, 1785]

Können wir ruhigen Gewissens behaupten, Kants 1. Universalisierungsregel im Schaffensraum der letzten 2, unserer 20 japanischen Gebirgsbauern "erkannt" und kultiviert zu haben? Oder haben wir zumindest erkannt, dass wir das gar nicht wollen? Dass wir denken was wir glauben und der Glauben die Berge versetzt? Dass der Trieb in uns unstillbar lodert, wir tagtäglich im Rudel auf Grosswildjagd in Entwicklungsländern und im Kreis der uns untergebenen durchs Steppengras der medialen Bilder- und Eindrückeflut pirschen? Haben wir das erkannt? Heute, ein Millisekündchen nach dem Ableben des letzten unserer 20 japanischen Gebirgsbauern?

"wir hatten es und halten es noch immer
streiften alle ketten ab, die sonst die leichtigkeit besiegen
konnten fliegen
ohne flügel fliegen

und heute rufst du alle superhelden, alle großen meister
alle highlander, alle krieger
alle guten geister
alle superfreaks und auserwählten
um mich ins hier
du hast millionen legionen hinter dir"
[Millionen Legionen, Thomas D., 1999]

Woran glauben wir? Ans Geld, die Gesundung des Finanzwesens, das Wohlwollen unserer Eliten? Warum glauben wir? Aus Angst, Sportsgeist, Gier oder Neid?

Wer sind wir? ...das ist die Frage. Und diese scheint am heutigen, neuerlichen 1. Jänner - diesmal 2010 - weitestgehend ungeklärt.